Die unsichtbare Katze
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Die unsichtbare Katze

Es war einmal ein kleines Mädchen, das wünschte sich sehnlichst eine Katze. Aber seine Eltern waren strikt dagegen. "Du kümmerst Dich ja doch nicht um das Tier," hieß es, "und am Ende haben wir die Katze auf dem Hals."

Aber die Kleine war von ihrem Wunsch nicht abzubringen, sie wünschte sich so sehr , eine Katze zu haben, daß sie eines Tages sogar in der Ecke ihres Zimmers ein Miauen hörte. Das Mädchen sprang auf und ging vorsichtig in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Plötzlich strich etwas an ihrem Bein entlang und wieder hörte sie das Mauzen. Aber sie konnte nichts sehen. Als sie sich hinabbückte, um das kitzelnde Gefühl am Bein abzustreifen, da faßte sie plötzlich in sanftes, seidiges Fell. Ein gefälliges Schnurren drang an ihr Ohr.

"Was ist das denn, fragte sie mehr sich selbst." Aber sie bekam Antwort: "Na ich bin eine Katze und ich habe Hunger."

"Aber ich kann Dich nicht sehen," wunderte sich das Mädchen. "Aber fühlen und hören kannst Du mich doch," antwortete die unsichtbare Katze, "und wenn Du die Augen schließt, kannst Du mich auch sehen!"

Das Mädchen schloß die Augen, und tatsächlich erschien das Bild der Katze, von der sie schon immer geträumt hatte.

Von da an brachte sie ihrer unsichtbaren Katze regelmäßig Futter und Wasser, bürstete sie und Abends vor dem Einschlafen kuschelte sie mit der Katze in ihrem Bett.

Das Mädchen war sehr zufrieden. Aber die Eltern beobachteten seine Aktivitäten mit äußerstem Mißtrauen. Alles Zureden half nichts, das Mädchen behauptete steif und fest, es habe jetzt eine Katze, man könne sie eben nur nicht sehen.

Auch viele Sitzungen beim Psychiater konnten das Mädchen nicht von seiner Überzeugung abbringen.

Eines Tages brachten die Eltern der Kleinen schließlich eine Katze aus dem Tierheim mit nach Hause.

Vielleicht würde sich das Mädchen ja durch die echte Katze von seinen Wahnvorstellungen befreien. Aber nachdem die Eltern das Kinderzimmer verlassen hatten, da hörten sie nur ein wildes Kreischen und Fauchen und die arme Tierheimkatze raste mit zerzaustem Fell durch die Tür und suchte sich im Wohnzimmer ein sicheres Versteck, in dem sie zitternd vor Angst für Stunden verkrochen blieb.

"Ich habe doch gesagt, ich habe schon eine Katze und ich will keine andere," beschwerte sich das Mädchen.

Die Eltern wußten sich keinen Rat mehr. Wenn das so weiterging, würde ihre Tochter wohl in einer Anstalt landen. Auch wenn das Mädchen -von seinem Katzenwahn einmal abgesehen- ansonsten ganz normal wirkte und auch in der Schule gute Leistungen brachte, mit ihrer eingebildetet Katze trieb sie es immer wilder.

So kaufte sie von ihrem Taschengeld Katzenfutter. Und da der Teller immer sauber abgeleckt war, gingen die Eltern davon aus, das das Mädchen das Katzenfutter selbst aß. Und wer sonst, als die Tochter sollte denn die toten Mäuse vor ihr Bett gelegt haben.

Für Eltern und Ärzte war klar, es handelte sich um eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung mit der unübersehbaren Tendenz zur Tierquälerei. Erst die arme Tierheimkatze, dann die Mäuse, wer weiß, was noch alles kommen würde.

Die Eltern griffen zu einem letzten Mittel. Wenn wir so tun, dachten sie sich, als ob wir auch an ihre unsichtbare Katze glauben, dann können wir vielleicht zu ihr vordringen und ihr helfen.

Und so kam es, daß sich eines Abends der Vater vorsichtig an das Bett des Mädchens setzte, das wieder einmal seine unsichtbare Katze streichelte und dabei schnurrte.

"Darf ich die Katze auch mal streicheln?" fragte er und das Mädchen antwortete ungläubig: "Probier doch mal."

Der Vater streckte die Hand aus und berührte das seidige Fell der unsichtbaren Katze. Erschreckt zuckte seine Hand und ehe er sich´s versah, da vernahm er ein unwilliges Fauchen und eine saubere Reihe tiefer Kratzer, aus denen das Blut zu perlen begann, zog sich über seinen Handrücken.

Ungäubig starrte der Vater auf seine Hand: "Morgen hole ich das Katzenfutter," sagte er nur und verließ völlig verstört das Kinderzimmer.

Wolfgang Schwerdt